Christian Zündels Weine sind ab Jahrgang 2018 von Demeter zertifiziert – eine weitere Etappe eines langen Wegs, auf dem ihn seit zwei Jahren Tochter Myra begleitet. (Foto: Hans-Peter Siffert / weinweltfoto.ch)


In der Architektur bezieht sich der Begriff Genius Loci auf Merkmale eines Ortes, die entwurfsbestimmend sein können. So sind Grundstücke etwa geprägt durch Lage, die Einbettung in die Umgebung, aber auch durch Bodenbeschaffenheit und Ausdehnung. Doch nicht nur Sicht- und Messbares, ebenso zählt Atmosphärisches dazu, die Aura eines Ortes. Und so lässt sich der Genius Loci als Konstrukt menschlichen Geistes betrachten, in dem sich Wissen, Erinnerung, Wahrnehmung und Deutung vereinen.

Aus dieser Perspektive betrachtet kann man sich den Weinbauern Christian Zündel auch als Architekten vorstellen, denn um nicht weniger als den Genius Loci zu ergründen und sicht- und spürbar zu machen, geht es ihm in seiner Arbeit, und dies seit der Stadtzürcher im Malcantone zu siedeln begann. Ab 1976 kartografierte der an der ETH ausgebildete Bodenkundler für den Kanton und dilettierte als Gemüse- und Beerenbauer. Fünf Jahre später rodete er zusammen mit Adriano Kaufmann in Beride eine verbuschte Parzelle und bestockte sie mit Merlot-Reben. Damit legten die beiden die Grundlagen zu zwei Weinbaubetrieben, die bald schon für Furore sorgen sollten. Heute sind die 7000 Quadratmeter der Lage Nisciora in seinem Besitz, aus der Ernte entsteht der Terraferma, von dem jährlich zwischen 3000 und 4000 Flaschen auf den Markt gelangen. Zündels erster Jahrgang entstand aus der Ernte 1986. Er konnte dabei – wie andere auch – auf tatkräftige Unterstützung seines Freundes Werner Stucky zählen. Damit war der Stil vorgegeben. Nicht der Merlot à la Selezione d’Ottobre sollte entstehen, vielmehr ein Bordeaux à la Château Pétrus. Davon hat er sich mittlerweile in langem Prozess verabschiedet, was auch mit persönlichen Vorlieben zu tun hat: Wenig kann ihn mehr begeistern als ein gereifter Monprivato von Giuseppe Mascarello oder ein Clos de la Roche der Domaine Dujac, Nebbiolo der eine, Pinot noir der andere. Und geradezu als Erleuchtung kann die Begegnung mit einer Flasche Puligny-Montrachet Les Enseignères 1982 von Coche-Dury bezeichnet werden, am 15. Oktober 2000 vom Weinhändler Jean Solis kredenzt. «Das war einfach umwerfend!» Diese Flasche zündete beim Merlot-Winzer die Idee, es im Tessin auch mit Chardonnay zu versuchen, im «kühlsten und feuchtesten Anbaugebiet der Alpensüdseite». Ein Volltreffer, wie der sich rasch einstellende Erfolg zeigte, sichtbar etwa an der Aufnahme des Lagenweins Dosso in die Sammlung «Mémoire des Vins Suisses». Er ersetzte ab Jahrgang 2008 den Orizzonte. Ein Tessiner Weisswein als Botschafter der Schweizer Weinkultur – ein Paukenschlag! Und dann kam der Einbruch: in Form der Flavescenza dorata, der goldgelben Vergilbung, einer Infektionskrankheit, welche die Rebe verkümmern lässt. Sie hat Zündels Chardonnay-Bestände weitgehend zerstört. Die Parzelle Carbonisc ist gerodet, neu gepflanzt sind erst ein paar Bäume zur Erhöhung der Biodiversität und verschiedene Unterlagsreben, um Auskunft darüber zu erhalten, was in Zukunft mehr Sicherheit bietet. Welche Sorte dereinst aufgepfropft wird, darüber haben Christian Zündel und seine Tochter Myra noch nicht entschieden.

Dies alles zählt zur Taktik, die Strategie hingegen beruht auf den Ideen Rudolf Steiners, wie er sie in seinem landwirtschaftlichen Kurs 1924 in Koberwitz bei Breslau, dem heutigen Wrocław, formuliert hat. «Als ich die Vorträge zum ersten Mal las, dachte ich, dass ich damit nichts anfangen kann. Über Rebbau sprach Steiner ja mit keinem Wort, dafür aber über eine Landwirtschaft als komplexer Organismus. Wir aber betreiben Monokultur.» Was Zündel jedoch faszinierte, war, dass da einer die Hierarchie umkrempelte und den Finger auf die Schwächen des wissenschaftlichen Denkens der damaligen Zeit legte, einer Fokussierung aufs Detail etwa anstelle des Betrachtens des Gesamtbildes. Nicolas Joly, einer der Vorreiter unter den biodynamisch arbeitenden Weinproduzenten, formulierte es in seinem Buch «Beseelter Wein» so: «Das Paradox der modernen Landwirtschaftslehre und der Wissenschaft besteht darin, dass man zwar sehr viel weiss, aber kaum verstanden hat, wie das alles zusammenhängt.» Wegweisend für Christian Zündel war ein Besuch auf der Domaine Henri Cruchon im waadtländischen Echichens bei Michel und Raoul Cruchon. Die beiden praktizierten biodynamische Methoden parallel zum konventionellen Anbau. Für Zündel, den genauen Beobachter, war es ein Leichtes, die Unterschiede im Habitus der Pflanzen festzustellen. Die in der Biodynamie angewendeten Mittel wirken in kleinster Dosierung. So werden beispielsweise auf einer eine Hektare grossen Fläche bloss vier Gramm des Präparats 501 ausgebracht, eines zu Pulver zermahlenen Bergkristalls, der in Kuhhörner gefüllt und eine Zeitlang unter dem Boden lagert, für Steiner konzentrierte Sonnenenergie, welche das Wachstum der Pflanze vorteilhaft beeinflusst, dynamisiert, für orthodoxe Naturwissenschaftler unerklärbare Scharlatanerie. Aber es funktioniert, Christian Zündel konnte es bei Cruchons mit eigenen Augen sehen und erlebt es nun seit vielen Jahren in seinen Rebbergen im Malcantone.

Für einen scharfen Denker und Analytiker wie Christian Zündel war es ein steiniger Weg. «Es war schwierig, die Materie durchdringen zu können», erinnert er sich. 2003 besuchte er einen Kurs bei Pierre Masson, dem vor zwei Jahren verstorbenen Spezialisten aus dem Burgund, der unzählige Winzer bei der Umstellung beraten hat. «Kauf dir eine Kuh!», war eines der Rezepte, die ihm Praktiker Masson mit auf den Weg gab. Es sind nun Pferde geworden und Zündel auch Kutscher: die Fahrprüfung jedenfalls hat er erfolgreich bestanden. Tiere sind ein Ansatz, um die Monokultur des Rebbaus zu durchbrechen. Vielleicht noch stärker beeinflusst hat ihn aber Andrew Lorand, von dem er sagt, dass er Steiners Ideen wohl am stärksten verinnerlicht hatte. Lorand wuchs bis zu seinem 15. Lebensjahr in den USA auf. Dann übersiedelte seine Familie in die Schweiz. Er liess sich an der landwirtschaftlichen Schule von Châteauneuf im Wallis zum Landwirt und Winzer ausbilden. 1981 begann er in den USA ein Studium in Agrarökologie und dissertierte über Biodynamik. Andrew Lorand war Leiter des nordamerikanischen biodynamischen Ausbildungsprogramms und in diesem Bereich fünf Jahre lang als Professor in Kalifornien tätig. Dann kam er in die Schweiz zurück und war europaweit als Berater bis zu seinem Tod im Jahr 2017 für landwirtschaftliche Betriebe unterwegs. In Österreich entstand unter seiner Ägide die Gruppe «respekt-biodyn», zu der Topbetriebe wie Achs, Beck, Loimer und Wieninger zählen. «Die Biodynamik ist eine Art komplementäre Medizin für die Landwirtschaft. Wer nicht heilen will, ich meine gesunde Zustände schaffen, der wird daran keinen Spass haben», war Lorand überzeugt. Exemplarisch für seine Vorgehensweise war die beobachtende, fragende Haltung. «Warum hast du Merlot gepflanzt?», wollte er etwa von Christian Zündel wissen, als er im Malcantone zu Besuch war. «Die sortentypisch grossen Blätter sind doch erstklassige Perenospora-Fänger.»

Ja, das Tessin ist für Winzer eine harte Nuss, die Kultivierung des delikaten Merlots im feuchten Klima eine besondere Herausforderung. Wer biodynamisch arbeitet, der muss vorausschauend handeln. Das liegt Christian Zündel im Blut. «Ich kann eingreifen, dynamisch sein und muss nicht nur erdulden.» Mit Jahrgang 2018 sind Zündels Weine auch von Demeter zertifiziert. Dies ist eine weitere Etappe eines langen Wegs, auf dem ihn seit zwei Jahren Tochter Myra begleitet. Beim 2019er überliess er ihr erstmals die Kelterung der Trauben aller vier Hektaren. Christian Zündel, der in seiner Erscheinung mit zunehmendem Alter immer mehr an Hermann Hesse erinnert, denkt natürlich weiter vor und mit, wie etwa über die Bedeutung der Notorietät, eines Begriff aus dem Recht, der eine juristische Gewissheit meint, die keines besonderen Beweises mehr bedarf. So notierte er nach einem Besuch bei Emmanuel Reynaud von Château Rayas: «Das wäre also der bisherigen Liste der Ingredienzien für eine Notorietät ohne Präsenz beizufügen: neben diskussionsloser Qualität Fokussierung auf wenige Weine, beschränkte Mengen, internationaler Verkauf.» Vieles davon ist bereits realisiert. Jacques Perrin, einer der Schweizer Wiederverkäufer, schrieb kürzlich in einem Angebot seines Le Club des Amateurs de Vins Exquis: «Eines ist sicher: Christian Zündel, ein wahres freies Elektron des Tessiner Weinbaus, beweglich, flüssig und leidenschaftlich, produziert Weine von Ästhetik und hat nicht aufgehört, uns zu überraschen.»

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