Winzer, Önologe, Koch: Biodynamik-Pionier Gilles Wannaz über den terrassierten Rebbergen von Lavaux. Auf den Rücketiketten seiner Flaschen steht: «Dieser Wein enthält Liebe und Sulfite.» (Foto: Hans-Peter Siffert / weinweltfoto.ch)

Es ist brütend heiss an diesem Nachmittag im Hochsommer. Gilles Wannaz bittet auf die beschattete Terrasse und schenkt aus der Glaskaraffe ein – goldgelb, warm und nach bestem chinesischem Tee duftend. Was er aufgebrüht hat, ist allerdings kein Yin Zhen, es sind fermentierte Knospen seiner Reben, so wohlriechend wie wohlschmeckend. Wannaz sitzt mit dem Rücken zum See, nicht dass er den atemberaubenden Blick satt hätte, doch die Gäste sollen in den Genuss des gesamten Panoramas kommen linkerhand die Steillagen des Dézaley, vis-à-vis die Berge Savoyens, und im unteren Teil des Tableaus zieht ein Dampfschiff eine gerade Linie ins Wasser des Lac Léman und deutet an, dass die Zeit doch verrinnt. Bedächtig verteilt Gilles Wannaz Tabak aufs hauchdünne Papier, rollt beides behänd und ohne auch nur einen Krümel zu verlieren, zum Zigarettchen, fährt zur Fixierung treffsicher mit der Zungenspitze entlang des schmalen Streifen arabischen Gummis, klemmt die Selbstgedrehte zwischen die Lippen und setzt sie dann in Brand. Nun kann das Gespräch beginnen.

«Ich sah diesen Ort immer als Insel, und es ist diese Vorstellung, die mich gepackt hat, damals wie heute. Von hier aus gehe ich auf meine immobilen Reisen.» Wannaz spricht leise und bedächtig. Rund die Hälfte seiner 4,5 Hektaren umfassenden Produktionsfläche liegt ihm zu Füssen, sie sind Teil des Tour de Chenaux, dessen Grundmauern im 13. Jahrhundert erstellt wurden. Wie der benachbarte Tour de Marsens, Wahrzeichen des Dézaley, hatte er die Funktion eines Wehrturms. Wannaz’ Grossvater kam 1962 in den Besitz des Anwesens, der geplante Autobahnbau entlang des Genfersees zwang ihn zur Aufgabe seines Betriebs in Lutry. Später kamen Lagen in Epesses, Saint-Saphorin, Dézaley und Lutry hinzu. Dass Gilles Wannaz zum «gardien du lieu», zum Wächter und Hüter des Tour de Chenaux, wurde, war keineswegs sicher.

In seiner Jugend zog es ihn in die Stadt, er war aktiv in der Bewegung Lôzane bouge, die sich angestachelt durch den Film «Züri brännt» formierte und gegen das Establishment auf die Strasse ging. Es kam zu Randalen, und der damalige Stadtpräsident Jean-Pascal Delamuraz liess seine Polizisten hart durchgreifen. Doch ganz unwirksam war das Aufbäumen der Waadtländer Jugend nicht. Mitte der 80er-Jahre wurde im ausrangierten Depot der städtischen Verkehrsbetriebe Lausanne das autonome Zentrum Dolce Vita eröffnet und erlangte bald grosse Ausstrahlung. So schrieb 1989 das britische Magazin «The Face»: «Dolce Vita, a raw house club with graffitied walls and a London feel.» Zwei Jahre zuvor war Keith Haring aus New York zu Besuch und malte den Besuchern seine Strichmännchen auf die Oberkörper, und in diese Zeit fielen auch aufsehenerregende Konzerte von Stephan Eicher und The Young Gods. Gilles Wannaz war mit dabei, mehr noch, er lieferte seinen Wein mit kunstvollen Etiketten, ein paar Flaschen davon hat er aufbewahrt und ausgestellt. Mit Stephan Eicher verbindet ihn auch heute noch eine Freundschaft. Für ihn konzipierte er Bühnenbilder und organisierte aussergewöhnliche Caterings. Denn sosehr Gilles Wannaz Winzer und Önologe ist, so sehr ist er auch Koch. La Tour de Chenaux verfügt über eine überdachte und durchdachte Küche mit
spektakulärem Blick über die terrassierten Rebberge von Lavaux. Mittags kocht Wannaz regelmässig für seine Truppe, abends bereitet er hin und wieder fulminante Menüs für bis zu 80 Gäste zu. Sie finden im zauberhaften Garten oder im lässigen Festraum spielend Platz. Seit kurzem bietet La Tour de Chenaux auch zwei Ferienwohnungen an. Zweifellos: Gilles Wannaz ist vielfältig talentiert.

Die erste Ernte – an der Seite seines Vaters – war gewissermassen ein Sprung ins kalte Wasser. Man schrieb das Jahr 1982, es ging als «vendange des piscines» in die Geschichte ein. Eine enorme Überproduktion führte dazu, dass selbst Schwimmbäder für die Zwischenlagerung zum Einsatz kamen. Den Rebbau lernte Gilles Wannaz vom Vater, die Önologie in Changins. Dennoch sagt er: «Ich fühle mich als Autodidakt, arbeite intuitiv.» Beides kam ihm bei der langsamen Annäherung an den biologischen Rebbau zugute, er war damit ein Pionier im Revier und wurde argwöhnisch beobachtet. Der ist doch bloss zu faul, um zwischen den Rebzeilen das Grün wegzuspritzen, wird sich manch einer seiner Nachbarn gedacht haben, und die Schadenfreude wird nicht weit gewesen sein, wenn ihm auch immer wieder der Mehltau einen Teil der Ernte aus 25 Sorten zerstörte. «Vignoble en naturel» steht an seiner Hauswand geschrieben, und das ist keine leere Behauptung, die grüne Oase von La Tour de Chenaux ist aus weiter Distanz sichtbar. Unterdessen hat Wannaz Mitstreiter gefunden, sechs an der Zahl, sie treten als Gruppe Lavaux-VinBio an die Öffentlichkeit, unter anderem mit einem ausführlichen Dokumentarfilm. Mit dabei sind Grössen wie Blaise Duboux oder Charles Rolaz. Wie für viele andere Winzer, die sich mit der biodynamischen Landwirtschaft auseinanderzusetzen begannen, war auch für Gilles Wannaz die Begegnung mit Berater Pierre Masson wegweisend. Dessen tiefes Verständnis für Zusammenhänge und reiche praktische Erfahrung überzeugten ihn. Seit 2002 praktiziert er die Methoden, nicht ohne Rückschläge, dennoch unbeirrbar. «Die Biodynamie verändert vielleicht noch mehr den Menschen als die Rebe. Was mir daran besonders gefällt, ist, dass es eine andere Hierarchie gibt. Sie ist ein System, ein Organismus, der alles umfasst.» Pflanzen und Menschen haben für Wannaz viele Gemeinsamkeiten. «Mein Sohn Sami erinnert mich an eine Pflanze. Er kam ohne die Fähigkeit, sprechen und gehen zu lernen, in die Welt. Aber er drückt sich aus.» Die Arbeit mit biodynamischen Methoden hat sein Beobachten und Zuhören verschärft. So hat er etwa entdeckt, dass sich durch die Spritzungen mit dem Hornkieselpräparat 501 die Vitalität der Reben akzentuiert. «Die Pflanze verändert sich, die Geschmeidigkeit nimmt sicht- und spürbar zu. Sie richtet sich auf, wird vertikaler, und so nehme ich auch den daraus gekelterten Wein wahr.»

In Gilles Wannaz’ Gewächsen ist eine sonderbare Abgeklärtheit spürbar, die sich auf die Empfänger übertragen kann. «Dieser Wein enthält Liebe und Sulfite», steht auf den Rücketiketten geschrieben, ergänzt mit einem kleinen Poem aus seiner Feder: «Flüssige Ode einer glücklichen Rebe, Aromen ausbreitend, aus naturnah bewirtschaften Weinbergen von Lavaux. Wenn in Übereinstimmung mit unserer Leidenschaft das Glück zu atmen beginnt, so ist es möglich, dass Sie mehr davon haben möchten.»

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