«Die Biodynamie verändert vielleicht noch mehr den Menschen als die Rebe», sagt Gilles Wannaz, Marie-Thérèse Chappaz’ Waadtländer Winzerkollege. Beide haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ein kleines Stück Erde zu verschönern. Während andere aufgebrochen sind, die Welt zu erobern, blieben die beiden an ihrem Ort, da, wo schon ihre Vorfahren lebten und starben. Und doch ist weder Gilles Wannaz noch Marie-Thérèse Chappaz stehen geblieben, sie begaben sich vielmehr auf eine Reise in unbekannte Räume. Gut möglich, dass für die Walliserin das grösste Abenteuer die Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt Rudolf Steiners ist, des Begründers der Anthroposophie, ein Begriff der sich aus den altgriechischen Wörtern «ánthro_pos» (Mensch) und «sophía» (Weisheit) ableitet. Steiners umfassende Anschauung des Menschen und der Welt führte unter anderem zu einer landwirtschaftlichen Produktionsweise, die heute als biodynamisch bezeichnet wird und gerade auch unter Weinbauern auf grosses Interesse stösst.

Schritt für Schritt hat Marie-Thérèse Chappaz ihre Rebberge vitalisiert und ein Biotop reich an Pflanzen geschaffen, das Insekten und Kleintieren Lebensraum bietet.

Marie-Thérèse Chappaz ging einen klassischen Weg, studierte Önologie an der Fachhochschule in Changins und arbeitete dort nach dem Abschluss mehrere Jahre im Labor. Dann entschied sie sich, das Haus ihres Grossonkels Maurice Troillet mit dazugehörigen Rebbergen in Fully zu beziehen. Mit Jahrgang 1988 kamen die ersten Weine der Domaine La Liaudisaz in den Verkauf. Das war in einer Zeit, als auch im Wallis wucherndes Grün und alles, was kreucht und fleucht, radikal weggespritzt wurde, hochwirksam mittels synthetischer und systemisch wirkender
Mittel, die zudem Pilzkrankheiten in Schach halten sollten. Wer sich wie Biopionier René Güntert in Miège gegen den flächendeckenden Einsatz von Helikoptern zur Wehr setzte, der kriegte auf die Kappe.

Eine Insel der Seligen war die Domaine de Beudon von Jacques und Marion Granges. Auf einem Plateau zwischen 740 und 890 Meter über Meer gelegen und nur zu Fuss oder mit der Privatseilbahn erreichbar, reifen zwischen Flaumeichen, Föhren, Kastanien- und Mandelbäumen Trauben. «Les vignes dans le ciel» thronen, mit Blick auf Fully, hoch über der Ödnis des Talgrunds. «Jacky» Granges, unverkennbar mit Bart, Beret und Strickjacke, hatte an der ETH Zürich Agronomie studiert und in Changins Önologie. Auf seiner Domaine de Beudon begann er in den 70er-Jahren mit bioorganischen Methoden, 1993 wurde der Betrieb als Erster in der Westschweiz als biodynamisch zertifiziert. Später fand er Aufnahme in der internationalen Vereinigung La Renaissance des Appellations rund um Nicolas Joly. Was Marion und Jacques Granges – er kam 2016 bei einem Arbeitsumfall ums Leben – auf ihrer Domaine de Beudon realisierten, blieb bei Nachbarin Marie-Thérèse Chappaz nicht unbemerkt. Schritt für Schritt vitalisierte sie ihre Rebberge und schuf ein Biotop reich an Pflanzen, die Insekten und Kleintieren Lebensraum schaffen. Das alles braucht – ähnlich einer Parkanlage – umsichtige Pflege. So sind während der intensivsten Vegetationszeit bis zu dreissig Personen im Einsatz, um die rund 14 Hektaren verteilt auf über 30 Parzellen in 4 Gemeinden im Schuss zu halten. Immer tiefer tauchte die Winzerin auch in das Thema Biodynamik ein, in die Gedankenwelt Rudolf Steiners, und bald schon – wie es ihrem Charakter entspricht – organisierte sie in ihrer zum Veranstaltungslokal umgebauten Scheune Vorträge, zu denen sie Bauern und Winzer einlud. So kam etwa Nicolas Joly ins Wallis und stellte seine Sicht der Dinge dar. «Wir können das Leben nicht vollständig verstehen, wenn wir einen lebenden Organismus bis ins unendlich Kleine sezieren und ihn ausschliesslich in einer streng auf die Materie beschränkten Ebene untersuchen. Was uns, um ein tiefes Verständnis der Pflanze zu erhalten, interessiert, das sind die Prozesse, die sie geschaffen haben, nicht die Pflanze an sich! Die ungeheure Tür, die Rudolf Steiner in der Medizin, der Landwirtschaft oder der Pädagogik aufgestossen hat, ermöglicht es, den energetischen Hintergrund der physischen Welt zu erklären.» Wer herkam und dachte, er gehe mit ein paar Joly-Rezepten nach Hause, um besseren Wein zu produzieren, der sah sich getäuscht. Joly geht es immer ums Ganze, und am Schluss bleiben – nicht überraschend – mehr Fragen als Antworten.

«La Grange», Marie-Thérèse Chappaz’ Scheune, dient aber nicht bloss der fachlichen Weiterbildung, sie ist auch Ausgangspunkt für Blumen- und Kräuterwanderungen mit Marlène Galletti etwa oder für Schreibwerkstätten. Viermal im Jahr lädt sie zusammen mit dem Walliser Dichter André Milhit zum «Atelier d’écriture – Mon poème dans la vigne» ein. Zur Einstimmung werden Texte ihres Onkels Maurice Chappaz und seiner Frau Corinna Bille gelesen, dann eigene Texte geschrieben, und zur Inspiration spazieren die Teilnehmer durch die Reben. Der Tag endet mit dem Trinken eines «vin de l’amitié» – Marie- Thérèse Chappaz teilt gerne. Nur ab und zu nimmt sie sich die Zeit, etwas für sich ganz allein zu machen. Dann entstehen ungegenständliche Gemälde in hellblauen oder rosafarbenen Tönen, in den Pastellfarben, wie man sie aus den Waldorfschulen kennt.

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