Die Erfolgsgeschichte von Brancaia begann eher zufällig im Jahr 1981: Als Barbara Widmers Eltern während der Weihnachtsferien in der Toskana sich in die sanften Hügel mit den Zypressenalleen verliebten und spontan einen alten Gutshof kauften, zu dem ein paar Hektaren Reben gehörten. Heute verfügt Brancaia auch über drei grosszügig konzipierte Ferienwohnungen und ein Studio.

Die Erleichterung ist ihr anzumerken, der Chefin und obersten Önologin auf Brancaia. Mit der Lese 2016 sei sie, sagt Barbara Widmer, zufrieden. Weil sie bei dieser Aussage ausgesprochen zuversichtlich tönt, kann man sie durchaus als Understatement auffassen und wie folgt interpretieren: Auch aus diesem Jahrgang wird es spannende Weine geben auf dem toskanischen Weingut, klassische Chiantis, aber auch kraftvolle Super Tuscans mit dem gewissen Etwas. Wenn man die Qualität der eingebrachten Trauben anschaut, sowohl im Chianti als auch in der Maremma, scheinen die letzten Monate weit weg. Die Blüte, erzählt die dynamische Winzerin, sei inhomogen gewesen, die daraus resultierenden Probleme hätten sich bis in den Herbst hinein gezogen. «In der Maremma hatten wir auch mit der Trockenheit zu kämpfen.» Lehmböden mit hohem Sandanteil sind schliesslich nicht die beste Grundlage, um nach Wochen fehlender Niederschläge automatisch beste Ergebnisse zu erzielen. Mehrmals mussten die Lesehelfer durch die Reihen gehen, der notwendigen Selektion wegen. Wieder eine Herausforderung, eine von so vielen, die Barbara Widmer bewältigen musste, seit sie den Betrieb in verantwortlicher Position übernehmen konnte. Dass die Tochter der Brancaia-Gründer das Gut in den vergangenen 18 Jahren ganz nebenbei noch in eine neue Dimension führen konnte, war bei alledem nicht zu vermuten.

«Ein Grundsatz, der uns jeden
Tag vorantreibt:
 Nur mit erstklassigem Traubengut kann man ein Spitzenprodukt erzeugen»
Barbara Widmer

Im Jahr 1981 hatte erst recht niemand mit dieser Entwicklung gerechnet. Die Eltern, das Schweizer Paar Brigitte und Bruno Widmer, hatten sich in jenem Sommer in ein toskanisches Gut bei Castellina verliebt, und es passierte, was schon des Öfteren passiert ist in der Toskana: Ein paar Reben gehörten dazu, sie wurden mehr zufällig als beabsichtigt übernommen. Und wie so häufig fanden die Neuankömmlinge Gefallen am ungewohnten Metier, konnten schon bald einen Wein vorzeigen, der mehr war als nur ein anständiges Hobbyprojekt. Schon in den Achtzigern begann man von Brancaia zu sprechen. Tochter Barbara Widmer sprach damals weniger über Sangiovese und Canaiolo, hatte anderes im Kopf. Architektur sollte es sein, aber von Dauer war diese Entscheidung nicht. Das mit dem Wein begann dann in den Neunzigern, während eines Aufenthalts auf Brancaia, dann aber richtig, erst zaghaft, schliesslich immer intensiver. Ein ausgedehntes Praktikum in Genf bei der Domaine des Balisiers und ein Studium in Wädenswil trugen dazu bei, die Beziehung zwischen Barbara Widmer und den Reben zu festigen. «Seit 1998 bin ich hier», erzählt die Önologin dann über den Umzug in die Region Siena. Es war das Jahr, in dem das bereits über Standorte in Radda und Castellina verfügende Gut zwei neue Schritte wagte: Der Weinausbau, zuvor ausgelagert, wurde aufs eigene Grundstück transferiert, und zu den bereits bewirtschafteten Weinbergen gesellten sich Reben in der Maremma. In einem Terrain, von dem damals alle sprachen und die Zumutungen in Kauf nahmen, die auch heute noch gelten für diesen Teil der Toskana: vergleichsweise geringe Niederschläge, heisse Sommermonate, eine bei Brancaia lediglich teilweise praktizierte Bewässerung – die Pflanzen müssen sich durchbeissen. Reichlich Aufgaben für Barbara Widmer, die in der Toskana sesshaft wurde, Nachwuchs bekam. Und sich beispielsweise ihrem neuen Maremma-Prestigewein widmete.

Zum Weingut Brancaia gehören die Reblagen Brancaia in Castellina in Chianti, Poppi in Radda in Chianti und Brancaia in der Maremma im Anbaugebiet Morellino di Scansano. Località Montebottigli
(Foto: Hans-Peter Siffert weinweltfoto.ch)

Der war so ganz anders als jener aus dem Chianti. Statt auf Sangiovese zu setzen, der im dortigen Prestigewein «Il blu» unentbehrlich ist, geht es in Meeresnähe noch ein bisschen moderner zu. Der «Ilatraia» ist auf den ersten Blick nichts anderes als einer von vielen schicken Toskanern der neuen Generation, unter anderem mit Cabernet Sauvignon und Cabernet franc konzipiert und in Barriques gereift. Auf den zweiten ist er doch eine ganze Menge mehr, besitzt eine nicht selbstverständliche Eleganz, ist kein austauschbarer Super Tuscan. Barbara Widmer justierte mit der Zeit nach, nahm Veränderungen vor. Sich auf Lorbeeren auszuruhen, von denen sowohl «Ilatraia» als auch «Il blu» reichlich umgehängt bekamen, war nie Sache der Schweizer Winzerin. Dem Petit Verdot gab sie dagegen mehr Bedeutung: War der Maremma-Spitzentropfen zu Beginn mit gerade mal 10 Prozent des «Kleinen Grünen» ausgestattet, sind es seit 2009 rund 40 Prozent. Entsprechend vielschichtig geraten die Weine selbst in schwierigen Jahrgängen – durchaus geschliffen, aber alles andere als langweilig. Super Tuscans? Vielleicht doch eher Super-Widmers!

Zürcher Winzerin und Wahl-Toskanerin:
Barbara Widmer sammelt fleissig Auszeichnungen. «Tre bicchieri» im Weinführer «Gambero Rosso», Parker-Punkte beim amerikanischen Weinkritiker. Den 2009er Ilatraia von Brancaia bewertete dessen «Wine Advocate» mit 89/100 Punkten.

Den Anteil der Mitarbeiter sollte freilich niemand unterschlagen. Carlo Ferrini schwebt beratend über dem Projekt, aber auch die Kellermeister Amar Amarouche (in der Maremma) und Fabrizio Benedetti (im Chianti-Gebiet) haben ihren Anteil. Barbara Widmer selbst ist nicht die entrückte Investorin, sondern selbst vorn dabei. «Da war viel zu lernen und zu verstehen», schaut die Wahl-Toskanerin auf die vergangenen Jahrzehnte zurück, «aber mit der Zeit wird man sicherer.» Und traut sich auch Veränderungen zu. Da wäre zum Beispiel die Sache mit den einzeln nachgepflanzten Reben. Unmöglich sei das, habe man ihr einst erzählt. «Dann habe ich es trotzdem gemacht.» Und siehe da – es funktionierte. Inzwischen werden jährlich um die 1000 Rebstöcke ersetzt, per Hand aufgepäppelt, bis die Wurzeln so weit gediehen sind, dass sie sich selbst versorgen können. «Wir ziehen das aus unserem eigenen Material», erklärt die Winzerin, die keine Herbizide verwendet und sich auch Gedanken macht, wie die Kellerarbeit noch effizienter, erfolgreicher vonstatten gehen könnte. Die Eleganz, für die Brancaia bekannt wurde, soll ja schliesslich nicht nur den Weinen der Maremma zugute kommen, sondern auch jenen, die aus Material der Lagen in Radda und Castellina gewonnen wurden. «Dies ist die achte Ernte mit Spontanvergärung», erklärt Barbara Widmer. Längst hat sich der Verzicht auf Reinzuchthefen bezahlt gemacht, die Finesse hat zugenommen. Zumal auch bei der Reifung Unterschiede auszumachen sind: Früher habe es nur Barriques gegeben, erinnert sich die Chefin, nun aber würden zusätzlich gern Tonneaux verwendet. Seit vier Jahren sind auch Zementtanks in Gebrauch, zum Beispiel für den normalen Chianti Classico, den einzigen Rotwein des Hauses, der lediglich Stahl und Zement, aber kein Holz sieht. Der «Tre», jene aus Bestandteilen aller drei Rebanlagen zusammengestellte, in Zement und Tonneaux vinifizierte Kreation, verfügt über eine Menge Frucht und Spiel, gilt als Allzweckkönner, der Sangiovese mit Cabernet Sauvignon und Merlot kombiniert. Für die Riserva wiederum reifen die Jungweine in teilweise neuen Tonneaux oder Barriques, je nach Erfordernissen des Jahrgangs. Barbara Widmer hat es nicht so mit den Dogmen.

Barbara Widmer pendelte lange zwischen Zürich und der Toskana hin und her. Seit ihre beiden Kinder, Nina und Nicolas, schulpflichtig sind, lebt sie ganz im Chianti, auf dem Weingut Poppi in Radda.
(Foto: Hans-Peter Siffert weinweltfoto.ch)

«Theoretisch kann man alles wissen. Dennoch wird die Natur ihre Laune und ihre Nuancen im Wein immer zur Geltung bringen. Das fasziniert» Barbara Widmer

Ebenfalls nicht mit der Ausweitung um jeden Preis. Die 80 Hektaren genügen, um die Vermarktung in zahlreichen Ländern zu garantieren – Brancaia ist längst hinausgewachsen über den italienischen und den Schweizer Markt. Erweiterungen werden nicht kategorisch ausgeschlossen, stehen aber nicht ganz oben auf der Agenda. «Das muss Sinn ergeben für Brancaia», meint Barbara Widmer. Rebflächen im Norden, berichtet sie, habe sie sich schon mal angeschaut. Um vielleicht den Weisswein, der bereits jetzt produziert wird und der eine nicht selbstverständliche Frische besitzt, um weitere helle Sorten zu ergänzen. Aber geworden ist daraus bislang nichts, was umso weniger tragisch ist, als es an Arbeit nicht mangelt. Ferienwohnungen werden vermietet, und Barbara Widmer präsentiert ihre Weine gern selbst. Daheim auf dem Gut, aber auch auf den Weinmessen, in Italien oder Deutschland. Und sollte es gerade nichts zu tun geben, ist das nun wirklich kaum tragisch. «Ich mache auch gern mal gar nichts», lächelt die Chefin auf Brancaia, die quer eingestiegene Winzerin, die unverdrossen ihre Vorstellung vom modernen toskanischen Wein umsetzt. Die vom klassischen Chianti und die vom Super Tuscan der zukunftsträchtigen Art.

SHORT FACTS
BRANCAIA
ADRESSE Località Poppi, I-53017 Radda in Chianti
FON +39 0577 742 007
INTERNET www.brancaia.com
INHABER Familie Widmer
GESCHÄFTSFÜHRERIN UND ÖNOLOGIN Barbara Widmer
KELLERMEISTER CHIANTI CLASSICO Fabrizio Benedetti
KELLERMEISTER MAREMMA Amar Amarouche
BERATENDER ÖNOLOGE Carlo Ferrini
GRÜNDUNG 1981
REBLAND 80 Hektaren
BÖDEN Lehm mit unterschiedlich hohen Sandanteilen
PRODUKTION 700000 Flaschen jährlich
REBSORTEN Sangiovese, Merlot, Cabernet Sauvignon, Petit Verdot, Cabernet franc, Canaiolo (rot), Sauvignon blanc, Viognier (weiss)

WEINE BRANCAIA