Ein leichter Nebel lag frühmorgens über dem Lago di Como. Es war der 6. November, und in Cernobbio, in der Villa d’Este, bereitete man sich auf einen Abend vor, der Schweizer Weingeschichte schreiben sollte. Die Villa d’Este, eine herrschaftliche Renaissance-Residenz am Westufer des Comersees mit riesigem Park, wird seit 1893 als Luxushotel geführt, zuvor diente sie als Sommerresidenz des Bischofs von Como. 2009 fand hier das erste «Villa d’Este Wine Symposium» statt. Jeweils Anfang November lädt François Mauss, Gründer der Grand Jury Européen, zu einer mehrtägigen Veranstaltung ein. Dabei wird auch der «Prix Lalique» einer Persönlichkeit verliehen, die «weltweit nicht nur für ihre Weinqualität bekannt ist, sondern ebenso für ihr Charisma und den Respekt, der ihr entgegengebracht wird. Als Lady of the Wine steht sie für Humanität, Kultur und Geschichte.» Nach dem Deutschen Helmut Dönnhoff und dem Ungarn István Szepsy ging der Preis 2015 erstmals an eine Frau, an die Walliserin Marie-Thérèse Chappaz.

Marie-Thérèse Chappaz hat mit ihrer Domaine La Liaudisaz schon heute mehr erreicht als andere Weinbaubetriebe in Generationen. «GaultMillau» zeichnete sie als «Schweizer Weinikone» aus, und der «Wine Advocate» von Robert Parker vergab Anfang 2018 für zwei ihrer Süssweine 99/100 Punkte – ein Novum. 2017 wählte die Leserschaft des «Le Nouvelliste» sie zur «Femme valaisanne de l’année». Es gibt Filme über ihre Arbeit, und was über sie publiziert wurde, könnte zum Buch gebunden werden.

Was hat die Frau, das andere nicht haben? «Marité», wie die Winzerin von Fully von Freunden und Bekannten genannt wird, strotzt vor Tatkraft, Lebenslust und Heiterkeit, und dies, obwohl sie mit schwerem Gepäck durchs Leben geht und ihr Rucksack in den letzten Jahren nicht leichter geworden ist. Immer wieder sammelt sie Neues ein, nimmt es mit, sei es eine Parzelle, eine Bewirtschaftungsidee, und splittert die ohnehin vielfältige Produktepalette weiter auf; so hat sich ihr Pinot noir in den letzten Jahren vervielfacht, aufgeteilt nach Lagen, selbst wenn es davon am Schluss nur ein Fässchen gibt. «Zu einem alten Wein oder einem neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen», heisst es in Bertolt Brechts «Leben des Galilei».

Der Zauberlehrling scheint die Geister nicht mehr loszuwerden, die er rief. Marie-Thérèse Chappaz ist eine Getriebene, sie setzt sich ständig selber unter Druck, will es noch besser machen und nimmt dabei in Kauf, dass sie mit dem Resultat nie zufrieden ist. Trotzdem ist sie keine Egomanin, sondern sucht die Kooperation. 1996 war sie treibende Kraft hinter der Gründung von Grain Noble ConfidenCiel. Die Vereinigung legte mittels Charta fest, wie die besten Walliser Süssweine produziert werden sollen. Wichtige Eckpunkte sind: nur die Sorten Arvine, Ermitage, Johannisberg, Malvoisie und Amigne sind zugelassen, und die Beeren müssen am Stock überreif werden; dadurch grenzen sich die Mitglieder von industriell hergestellten Produkten ab. Die Lancierung war ein Fanal, sie löste eine Welle von Walliser Süssweinen aus. wie es sie zuvor nicht gab. Die besten «Grain Noble ConfidenCiel»-Gewächse zeigen, dass in der Schweiz veritable Weltklasseweine produziert werden können, und Marie-Thérèse Chappaz ist mit ihren Abfüllungen seit Beginn immer mit an der Spitze dabei.

2002 wurde die Vereinigung Mémoire des Vins Suisses ins Leben gerufen. Unter den ersten 21 Weinen, die ausgewählt wurden, den Schweizer Wein national und international als Botschafter zu repräsentieren, befand sich auch ein Süsswein von Marie-Thérèse Chappaz, der Petite Arvine Grain noble. Obwohl die Einlagerung einer beachtlichen Flaschenmenge in eine Schatzkammer, zu der Produzenten keinen freien Zugang haben, auch ein Opfer ist, zögerte die Winzerin keinen Augenblick und half mit, die Idee zu realisieren. Auch im Tal selber ist Marie-Thérèse Chappaz aktiv. Sie ist eines der 20 Mitglieder der Association Fully Grand Cru. Im Fokus der Gruppe steht die Schärfung des Profils der Weine aus Fully, deren Eigenart massgeblich durch die gneisshaltigen Lagen geprägt wird. Der Sorte Petite Arvine kommt dabei besondere Bedeutung zu, rund 10 Prozent der insgesamt 315 Hektaren von Fully sind mit ihr bestockt. Und seit zwei Jahren präsidiert Marie- Thérèse Chappaz die Union des Vignerons Encaveurs du Valais, sie entstand im Jahr 2000 durch die Fusion der Association des Vignerons Encaveurs du Valais und der Confrérie Saint-Théodule. Dieser Zusammenschluss von rund 75 Selbstkelterern repräsentiert rund ein Viertel der Walliser Produktion, und als deren Präsidentin vertritt sie das Wallis auch in der Schweizerischen Vereinigung der Selbsteinkellernden Weinbauern.

Marie-Thérèse Chappaz bewirtschaftet rund zehn Hektaren Rebberge, verteilt auf über 30 Parzellen in vier Gemeinden, die Handarbeit bedingen und seit 2004 nach biodynamischen Grundsätzen gepflegt werden. (Foto: Beat Caduff)

Dass Marie-Thérèse Chappaz Winzerin und nicht – wie es ihr erster Wunsch war – Hebamme wurde, war auch Folge eines Geschenks ihres Vaters, das sie zu ihrem 17. Geburtstag 1977 erhielt: einer Parzelle in der Lage Esserts, Gemeinde Charrat, also auf der linksufrigen Talseite, bestockt mit Pinot noir. Doch erst versuchte sie im Spital zu arbeiten – aber das hierarchische System war nicht nach ihrem Geschmack. Sie bereiste die Welt – und vermisste das Tal, ihre Familie. Und so fand sie zurück ins Wallis. Bald zogen sie die Arbeit in der Natur und das Werden von Wein in ihren Bann. Nach verschiedenen Praktika und der Ausbildung zur Önologin an der Westschweizer Fachhochschule von Changins arbeitete sie dort mehrere Jahre in der Forschungsabteilung. Dann war die Zeit reif, La Liaudisaz zu neuem Leben zu erwecken. Das Haus am Rand des Dorfes Fully wurde 1940 von ihrem Grossonkel Maurice Troillet gebaut. Troillet war von 1913 bis 1953 Walliser Staatsrat und während fast 20 Jahren Nationalrat und in dieser Zeit auch Nationalratspräsident. Als Vorsteher des Departements für Volkswirtschaft und Bildung verantwortete er die Rhonekanalisierung, die Gründung der Landwirtschaftsschule Châteauneuf und der Genossenschaft Provins. Nach seinem Rücktritt trieb er den Tunnelbau am Grossen Sankt Bernhard voran. Als «l’homme d’Etat le plus visionnaire du Valais au XXe siècle» bezeichnet ihn das Historische Lexikon der Schweiz. Für den Junggesellen Maurice Troillet war La Liaudisaz der Ort, wo er sich mit Personen aus Politik, Kultur und Kirche zum Gedankenaustausch traf. So waren etwa François Mauriac, französischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger 1952, oder General Henri Guisan Troillets Gäste. Später bewohnten sein Neffe Maurice Chappaz und dessen Frau Corinna Bille das Haus. Sie nutzten den Ort für ihre schriftstellerische Tätigkeit, «im Winter den Küchentisch auch in Handschuhen, da es damals keine Heizung gab», wie sich Marie-Thérèse Chappaz erinnert, und kelterten auch etwas Wein für den Eigengebrauch. Maurice war das älteste von zehn Kindern aus der Ehe von Henry
Chappaz und Amélie Troillet. Der Rechtsanwalt in Martigny drängte den Erstgeborenen, ebenfalls eine juristische Laufbahn einzuschlagen, dieser entschied sich aber, Schriftsteller zu werden, und so trat der nur zehn Monate später geborene Claude, Marie-Thérèse Chappaz’ Vater, in Vaters Fussstapfen. Amélie mit ihrer grossen Kinderschar war froh darum, dass sich ihr lediger Bruder Maurice Troillet tatkräftig dafür einsetzte, ihre Kinder mit «dem Geschmack der Kultur, der Küche und deren guten Gerichten bekannt zu machen». 1987 zog Marie-Thérèse Chappaz in La Liaudisaz ein, ein Jahr später kam Tochter Pranvera zur Welt. Sie zog sie allein auf und ist mittlerweile Grossmutter. 1988 war der erste Jahrgang, den die Jungwinzerin kelterte, darunter einen Marsanne aus Reben, die ihr Grossonkel 1924 gepflanzt hatte. Die Gobelet-Stöcke mit ihren verholzten Trieben, die an die Spirale eines Korkenziehers erinnern, ergeben heute Gewächse, die zum önologischen Weltkulturerbe zählen.

Marie-Thérèse Chappaz bewirtschaftet zurzeit rund zehn Hektaren Rebberge, verteilt auf über 30 Parzellen in vier Gemeinden. Die Parzellen bedingen Handarbeit und werden seit 2004 nach biodynamischen Grundsätzen gepflegt; aufwendiger, aber auch naturnaher geht’s kaum. Die Rebberge sind alle durch Demeter zertifiziert und ab Jahrgang 2017 auch ihre ersten Abfüllungen. Ihr Ziel ist es, mittels der Biodynamie «des vins vivants avec plus d’énergie» zu erzeugen, Weine also, die ihrem eigenen Wesen entsprechen. Die Umstellung verlief nicht ohne Nebengeräusche, die Weine gerieten zeitweilig aus dem Gleichgewicht, reduktive und mitunter leicht bittere Noten machten sich beim einen oder andern Wein bemerkbar. Diese Schwierigkeiten hat sie umschifft und probiert munter Neues aus: Amphorenausbau, Kelterung ohne Schwefel, das Vergären mit Stielen, das Spiel mit dem Säureabbau, Assemblieren, Abfüllungen nach Lagen … das klar definierte Château-Prinzip widerspricht ganz und gar ihrem Charakter. Und jedes Jahr versucht sie eine weitere ihrer über 30 Abfüllungen lang genug auszubauen und nicht aufgrund der Nachfrage und des finanziellen Drucks zu früh abzufüllen.

(Foto: Beat Caduff)

Wer ihren Alpengarten durchstreift, wird an den Satz ihres 2009 verstorbenen Onkels Maurice Chappaz, denken: «Aber wenn ich an etwas glauben soll, dann brauche ich die Natur wie den Atem: den Himmel, das fliessende Wasser, die Blumen, die Bäume. Das irdische Paradies ist nicht eine Stadt, sondern ein Garten.» Mit ihm verbindet sie die Liebe zur Sprache. Handgeschriebene, launige Briefe künden jeweils ihre neuen Jahrgänge an. Da stösst man etwa auf die wunderliche Wortreihe «saperlipopette, calembredaine, carabistouille, rastaquouère, coquecigrue, goguenardise», alles Lautmalereien, die sie in einer Publikation gefunden hat, die sich mit vergessenen französischen Wörtern befasst. Was sie dazu bewegt? «Es ist die Freude am Schreiben: die Musik der Wörter, des Klangs, mir gefallen verlorene Begriffe, sie sind wie das schmackhafte Gemüse der Kindheit».

WEINE VON MARIE-THÉRÈSE CHAPPAZ

DIE 100 SCHÖNSTEN WEINE DER SCHWEIZ