Es ist Sommer. Die Sonne brennt auf Sitten, und das fühlt sich an, wie wenn man mit der Walliser Hauptstadt in einem Schmelztiegel sässe und auf seine eigene Auflösung warte. Der Weinbauort Sitten gilt als sonnenverwöhnteste Stadt der Schweiz. Weiter prägen zwei Sprachen, vier Schlösser, viel Geschichte, ein Fussballklub und spektakuläre Trockenmauern den Ort und die Menschen.

Hier wächst man mit den Reben auf, so ging es auch Aldo Coppey, der schon als Kindergärtner in den Parzellen seines Vaters mitgeholfen hat. Mit schwarzer Winzerschürze, schwarzem Cape, randloser Brille und voller Energie betritt er leicht verspätet den Verkaufsladen der Firma Gilliard. Die Verspätung erklärt sich von selbst, aber erst später. Robert Gilliard, dieser Name, aber auch die Namen Fendant les Murettes, Dôle des Monts oder Johannisberg Brûle-Fer kennen gesetzte Weinliebhaber der Schweiz. Brûle- Fer heisst die Lage, so sagt man, weil es dort so heiss werden könne, dass sich sogar Eisenbahnschienen verbiegen würden. So viel zur Sonne. Und wer kennt den Clos de Cochetta? «Ich glaube», sagt Aldo Coppey, «dass mehr Kanadier oder Chinesen dort waren als Walliser.» Der Pensionär ist heute ein begeisterter Rebbergführer. Viermal pro Tag zeigt er Menschen aus der ganzen. Welt, was man im Wallis alles tut – für ein paar Flaschen Wein.

Clos de Cochetta – das klingt schon so wie Aldo Coppey, also nach Frankreich und Italien zugleich. Wir setzen uns in sein Auto. Aldo Coppey, der frühere Gastronom, sprudelt vor Witz, Charme und Geschichten. «Cochetta», sagt er, «das ist Patois», ein Dialektausdruck für das Wort Cotzette. Cotzette wiederum steht für petite côte, für einen kleinen Abhang. «Der Wein wurde jahrelang unter dem Namen Domaine de Cotzette verkauft, in der Deutschschweiz mit mässigem Erfolg», erzählt er, den man durchaus als Anpackertyp beschreiben kann. Die Erklärung für einen kommerziellen Misserfolg in der Deutschschweiz liegt eher auf der Zunge als auf der Hand. Nicht, dass der Wein ehemals schlechter gewesen wäre, nein, aber «Cotzette» wird auf Deutsch «kotzet» ausgesprochen. «Und wer will seinen Freunden schon den Fendant zum Kotzen auftischen?», fragt Coppey und lacht. Dass man das nicht will, musste man sich irgendwann auch bei Gilliard eingestehen. So änderte man den Namen und verwendete dazu, wie gesagt, den Dialektbegriff, der die Lage bezeichnet. «Die Verkaufsstatistik in der Deutschschweiz spricht für sich», fügt Coppey, der gefuchste Vermarkter, hinzu. Nicht umsonst war er sechs Jahre Weinconsultant bei Carrefour.

Wir fahren knapp zehn Minuten, ein paar steile Kurven führen uns in Richtung Himmel, dann geht es flach durchs Wohnquartier Champlan der Gemeinde Grimisuat weiter. Die Strasse heisst Rue des Grandchamps, doch die Reihenhäuser hier hohnlachten den grossen Feldern nur noch. Mit Tempo 30 über den Rücken von Sitten. Das Klima bezeichnet unser Guide als mediterran. «Hitze am Tag, Winde, kühle Nächte», für die Reben «das Beste», erklärt er. Die Menschen werden sich irgendwann daran gewöhnt haben. «Da sind wir», sagt er und parkt sein Gefährt im Schatten eines Wäldchens, das auf einem Felsbuckel steht. Keine Reben in Sicht, nur ein paar Ausflügler, die in saftige Aprikosen beissen. Vögel zwitschern, ein Nickerchen wäre schön, doch das Gegenteil ist der Fall – Coppey hat viel zu zeigen.

Der Mann zückt heute nicht zum ersten Mal einen seiner Schlüsselbunde und pickt daraus den Schlüssel zum Paradies. Dieser öffnet ein schwungvoll geschmiedetes Gittertor, das sich fest verankert in den Felsen krallt und genauso quietscht, wie es muss. Geöffnet, gibt es den Weg frei durch einen Tunnel, in dem man mühelos stehen kann.

Ich habe in meinem Leben schon einige Rebberge betreten. Solche, die man durch Schranken befährt, weil sie sich auf einem Militärgelände befinden. Andere, die man hinaufklettert, weil sie so steil sind. Wieder andere, die mich ehrfürchtig erschaudern liessen, nur weil ihr bekannter Name auf einer grabsteinähnlichen Platte eingemeisselt war. Ich habe Reben gesehen, die Meer und Wind trotzen. Ich habe Reben gesehen, die aus Geröllherden wachsen. Ich habe Reben am Rande der Gletscher gesehen. In Städten, auf Terrassen, in Klostermauern, in Laboratorien, in Zelten, im Regen, im Schnee. Ich habe also einige Reben gesehen und einige Rebberge betreten. Aber über einen Tunnel, durch den eine kleine, klapperige Goldgräberkiste mit Rädern auf Schienen führt, habe ich mich noch keinem Rebberg angenähert!

Es kommt mir vor, als würde ich den ersten Rebberg in meinem Leben erkunden. Das ist kein Rebberg, das ist ein Rebbergbau, denn dieser Tunnel wurde mühselig ausgekerbt, und das war noch die kleinste Arbeit an der ganzen Anlage. Sieht aus, als hätte die Natur den Schiefer wie einen Blätterteig mehrfach übereinandergefaltet und gepresst und der Mensch dann quer zur Faser einen Tunnel hineingehämmert. Die Zacken zeugen von der Auseinandersetzung und der verzahnten Widerspenstigkeit des weichen Gesteins. Länge: 66 Meter, Höhe: 1 Meter 90, Breite: 1 Meter 60, Temperatur: schön kühl.

Am anderen Ende des Tunnels bläst der Wind, die Sicht ist unfassbar. Wir befinden uns 660 Meter über Meer, unser Ausgangspunkt bei der Kellerei lag auf 540 Metern. Aus dieser Perspektive erkennt man gut, wie unstimmig Neu-Sitten mit seinen Hochhäusern, dem Stadion, dem Golfplatz, dem Spital und dem Suva-Center wirklich aussieht. Normalerweise schaut man von unten an die imposanten Rebberge, jetzt ist es umgekehrt, und die Hässlichkeit der Strassen mit ihren Kreiseln, der Bahnlinie, der A9 und den Parkplätzen, lassen sich nicht verdecken. Kein schöner Land.

Aldo Coppey schwärmt lieber vom Tunnel. «Zuerst war da nur ein kleines Loch, das als Wasserleitung diente. Doch als Gilliard den Rebberg gegen Ende der 1950er Jahre übernahm, baute man den Tunnel aus, verlegte Schienen, installierte eine Seilbahn und erntete auf diese Weise Kistchen um Kistchen.» Bis vor zehn Jahren habe man die Trauben im wahrsten Sinne des Wortes so eingefahren. Heute fliegt man sie ein. Passend zum Ort geht die Ernte also etwas spektakulärer über die Bühne; TV-Teams dokumentieren sie Jahr für Jahr. «Früher dauerte das hier eine Woche», sagt Aldo Coppey, «mit dem Helikopter und jeweils derselben Mannschaft dauert sie zwei Tage.» Und das geht so: Im September oder Oktober, also genau 100 Schönwettertage nach der Blüte, um 7.30 Uhr, bringt der Pilot die 600 Kilogramm schweren Transportbehältnisse und stellt sie auf der Länge des gesamten Clos an den Rand der Mauern. «Um 11 Uhr wird die erste Charge direkt in die Kellerei geflogen, um Spontangärungen auszuschliessen. Um 13.30 Uhr bringt der Helikopter die leeren Fässer wieder hoch, um 18 Uhr holt er die vollen wieder runter, das war’s.» Dazwischen werde gegessen, ein Fest sei das, schwärmt Coppey, der weiss, dass jeder Arbeitsschritt hier oben reine Handarbeit war und ist. Handarbeit, die heute gut und gerne 5 Franken pro Flasche kostet. Wer seinen Rebberg maschinell bestellen kann, der kalkuliert die Rebbergsarbeit pro Flasche auf weniger als die Hälfte davon. Hier oben ist an Maschinen nicht einmal zu denken, geerntet wird von Hand und, um Unfälle zu vermeiden, immer von unten nach oben, sprich dem Berg entgegen. Wer am Mauerrand stehen bleibt, fühlt sich mulmig, besser also, man läuft am Abgrund …

Die Rebfläche des Clos de Cochetta misst 3 Hektaren, gemessen an der Höhe und am Aufwand des Mauerbaus sind die dem Berg abgerungene Fläche und die 7500 daraus produzierten Flaschen ein Witz. Bestückt ist der Rebberg zu 60 Prozent mit Chasselas (Gutedel) und zu 40 Prozent mit Petite Arvine. «Zisterzinenser Mönche aus Savoyen haben die Anlage gebaut», so Coppey. Sie hatten Zeit, denn 1860 haben sie mit der Trockensteinmaueranlage begonnen und 43 Jahre später haben sie aus ungeklärten Gründen damit aufgehört. Wer dem Berg entgegenblickt und gut schaut, erkennt sechs angefangene Mauerstücke, die laut Coppey beweisen, dass die Mönche bis ganz nach oben wollten. 1903 jedenfalls haben sie ihr Vorhaben gestoppt. Hatten sie das Interesse verloren? Kam jemand ums Leben? Coppey vermutet des Rätsels Lösung in einer Berginschrift, die nur mit beträchtlichem Aufwand zu entziffern wäre.

Wie auch immer, dieser Rebberg gilt als eindrücklichste Trockenmaueranlage der Region, der Schweiz und wahrscheinlich der Welt. Die Höhe der minutiös dokumentierten und genau überwachten Mauern, die bis zu 280 Meter lang sind, misst je nach Stelle zwischen 12 und 22 Meter. Weltrekord? Vermutlich schon! Dokumentiert werden allerdings nicht nur die Mauern, Biologen untersuchen auch das artenreiche Leben in den Mauern.

Ein Meisterwerk des Trockenmauerbaus ist der Weinberg Clos de Cochetta bei Sitten im Wallis.

Ein Meisterwerk des Trockenmauerbaus ist der Weinberg Clos de Cochetta bei Sitten im Wallis.

Wer den Firmenprospekt liest, kann hier oben erst nachvollziehen, was darin geschrieben steht: «Wenn es einen Liebesbeweis des Menschen an den Wein gäbe, müsste man diese Rebberge nennen.» Das ist so, denn wer es wagt, den Bergen ein Steinkorsett anzulegen, der verdient den besten Wein. «Klar sind wir Walliser stolz auf unsere Trockenmauern», meint Aldo Coppey auf unserem Weg am Mauerrand, der Sonne entgegen, durch den paradiesischen Rebgarten. Auch klar, dass diese Walliser «ihre» Mauern im Kopf, also theoretisch und mit der Hilfe von Experten, mehr als einmal aneinandergereiht haben und so auf eine Länge von über 3000 Kilometern kamen. Die Chinesische Mauer bringt es auf 2450 Kilometer. «Unten füllt sich der Parkplatz», zeigt Coppey. Das Fussballspiel beginnt, man kann das Adrenalin der Fans förmlich riechen. «Wenn Johnny Hallyday auftritt, hört man ihn hier oben besser als im Stadion», schwärmt unser Bergführer, der sich in solchen Ausnahmesituationen gerne mit einem Gläschen Fendant Clos de Cochetta in den Rebberg setzt und dem französischen Rockgott von oben herab huldigt.

Aldo Coppey ist die gute Seele dieses Rebberges. Täglich schleppt er kistenweise Wein hoch, Käse fürs Raclette, 20 Kilo auf jeder Seite, der Ort ist eine Attraktion für Touristen aus der ganzen Welt. «Australier, Chinesen, Japaner, Kanadier, Inder, sie kennen das hier besser als die Einheimischen. Aber ich gestehe im gleichen Atemzug, dass ich selber auch erst 1999 zum ersten Mal hier oben war.» Hier, das sind ab dem Tunnel bis zur Pergola auf dem direktesten Weg hinunter 157 Treppenstufen. Hinunter, hinauf, und dies viermal am Tag, macht 1256 Stufen. Der Eiffelturm hat 600. Coppey ist fit und ganz sicher schwindelfrei. Angst, auf einer der hohen Trockenmauern zu stehen, hatte er in all den Jahren nur einmal. «Ein Sturm kam auf, der Regen peitschte vom Himmel, das Wasser floss in braunen Bächen den Felskopf hinunter. Ich dachte, jetzt spült es uns den Abhang hinunter und der Berg fällt mir auf den Kopf», erzählt er und läuft weiter. Den ganzen Rebberg will er zeigen, die älteste Rebe ist über hundert Jahre alt. Sie sieht aus wie ein Baum mit kargem Fruchtbehang. «Ein kleines Souvenir aus den Mönchszeiten », sagt Coppey, der uns über enge Treppen hinauf und hinunter, auf Mauerabhängen durch die eng bepflanzten Rebreihen führt. «Wenn ich Wein ausschenke, sage ich unseren Besuchern immer wieder, dass hinter diesem Glas mindestens zehn Berufsgattungen stecken, die das ganze Jahr damit beschäftigt waren.» Ob man wirklich erklären muss, wie viel Arbeit in einem Glas Wein steckt angesichts dieses Terroirs, ist jedoch fraglich. Hier fühlt man die Arbeit. Aber gut, auch die Reben schützen am frühen Abend nicht mehr vor Durst und Hunger. Im Fussballkessel fällt das erste Tor, während wir über eine Treppe an der Wand entlang in eine Art Zisterne, die aussieht wie ein fünf Meter breiter, mit Wildreben bewachsener Wunschbrunnen, hinunterwanken. «Das war die Schmiede», erklärt Coppey, deutlich am Russ an der Mauer zu erkennen. Hier hat einer der geschätzten acht Mönche, die am Berg gearbeitet haben, die verwendeten Werkzeuge selbst geschmiedet. «Kopf einziehen und so lassen », unter einem Felsvorsprung geht es in die Grotte. Drinnen ist der Fussball weg. Es ist kühl, ruhig, etwas feucht, die Wand ist keine nackte Felswand, sondern eine standesgemässe Trockenmauer, die aussieht wie eine Tapete. Wahrscheinlich hatte der Schmied nicht viel zu tun.

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«Die Temperatur liegt im Sommer wie im Winter bei 15 Grad», meint Coppey, der wohl bemerkt hat, dass wir zwar nach wie vor fasziniert sind, sich aber ein kleines Hüngerchen eingestellt hat. Raus aus der Schmiede, Treppe hinauf, Treppe hinunter, durchqueren wir auf einer anderen Höhe den rund 800 Meter langen Clos de Cochetta ein weiteres Mal, bis wir ans geschmiedete Nordportal gelangen. Kein Zugang ohne Schlüssel. «Es ist wichtig zu sagen», mahnt Aldo Coppey an dieser Stelle, «dass wir gerne Gäste empfangen. Aber der Rebberg ist auf alle Seiten hin abgeriegelt. Kinder dürfen hier nicht unbeaufsichtigt spielen, das wäre viel zu gefährlich.» Dann schnauft er tief ein, es scheint, als habe auch er Hunger und Durst bekommen. Zum Glück befindet sich seit über hundert Jahren unweit des Nordportals ein mächtiger Feigenbaum, dessen Früchte vollreif sind. Saftig und voll von Aroma kommen sie genau zur rechten Zeit. Dank ihrem Zucker und ihrem Saft fühlen wir uns bald wie Bacchus im Paradies. Eigentlich kann es kaum noch schöner werden, aber Aldo Coppey kennt noch ein lauschigeres Plätzchen, wo es eine eigene Wasserquelle, eine Pergola, eine kühle Grotte, in der die Mönche hausten, einen Schluck Fendant und ein Walliser Plättli gebe.

Dieser Ort ist keine Halluzination. Es gibt ihn wirklich. Mittendrin, im Clos de Cochetta, wo der Durst mit kühlem Fendant gestillt und der Gaumen mit Petite Arvine umschmeichelt wird, befindet sich das Paradies. Das alles ist derart erquicklich, kein Gegröle und keine Bausünden der Welt könnten diesen Moment trüben. «Und», fragt Aldo Coppey, «wie schmeckt der Wein?»

«Gut», sage ich und merke dann augenblicklich, wie dumm so eine Aussage angesichts der Mühe, die darin steckt, doch ist. Dafür werde ich aber die Geschichte von Aldo und «seinem» Rebberg weitererzählen. «Wer nämlich im Clos de Cochetta war», werde ich sagen, «wird nie mehr vergessen, wie es sein kann, wenn ein Wein mineralisch schmeckt.» Abpfiff im Stadion. Das Spiel ist aus. Für Aldo Coppey geht es schon bald wieder los.


SHORT FACTS
CLOS DE COCHETTA
REBFLÄCHE 3 Hektaren
REBSORTEN Gutedel (60 %), Petite Arvine (40 %)
PRODUKTION 7500 Flaschen
PREISE Fendant Clos de Cochetta Fr. 16.90, Petite Arvine Clos de Cochetta Fr. 26.–
INHABER Clos de Cochetta befindet sich im Besitz der Familie Gilliard und ist das Schmuckstück der Kollektion «Les Grands Murs».
Insgesamt bewirtschaftet Gilliard (Gründung: 1885) 50 Hektaren Weinterrassen
INTERNET www.gilliard.ch