Es gibt nur wenige italienische Weine, mit denen man auf eine Zeitreise durch die letzten Jahrzehnte auf brechen kann. Rotes aus Nebbiolo-Trauben zählt dazu

Es gibt nur wenige italienische Weine, mit denen man auf eine Zeitreise durch die letzten Jahrzehnte aufbrechen kann. Rotes aus Nebbiolo-Trauben zählt dazu, ganz egal ob aus den nordpiemontesischen Spickeln wie Ghemme und Gattinara oder aus der lombardischen Region der Valtellina mit Namen wie Inferno und Sassella. Die grösste Jahrgangstiefe jedoch findet man in Beständen von Langhe-Winzern, deren Barbarescos und Barolos stehen für Langlebigkeit.

Ein Foto aus dem Jahr 1952: Annunziata in La Morra, Aurelio Settimo. In einer Zeit, als die Trauben des Betriebs noch an andere Kellereien verkauft wurden.

Ihre Gewächse begleiten mich seit den späten Siebzigerjahren. Das war eine Zeit, an die sich Langhe-Winzer nur ungern erinnern: Ihre Weine blieben schwer wie Blei im Keller liegen. Kaum jemand interessierte sich für die tanninreichen, fruchtarmen, sperrigen Roten. Adrian war eine Ausnahme. Er arbeitete bei Haco in Gümligen, einem Lebensmittelhersteller, der damals vor allem für seine Bouillon bekannt war. Als Ingenieur beschäftigte er sich mit Verpackungsmaschinen, und dafür reiste er immer wieder zu italienischen Herstellern, denn wenn es um mechanische Raffinessen geht, sind die Italiener Spitze. Ädu und ich spielten in derselben Basketballmannschaft, er mit 40 Jahren als alter Routinier, ich als spritzigerer, aber weniger treffsicherer Jungspund. Nach dem Spiel lud der Senior die Mannschaft oft zu sich nach Hause ein, kochte Pasta und holte ein paar Flaschen italienischen Rotwein aus seinem Keller, deren Namen für die meisten am Tisch so fremd tönten wie Tizian oder Raffael. Und dann begann er zu schwärmen von der italienischen Küche und den Roten aus der Toskana und aus dem Piemont, und es schien, als liefe er erst jetzt so richtig zu Hochform auf. Besonders stolz war der Buongustaio auf eine Eigenabfüllung, die er mit selbstgestalterer Etikette kennzeichnete und auf den Namen «sangue di lupo» getauft hatte. Das war doppelt hintersinnig. Adrians Familienname war Wolf, und in seinen Adern floss das Blut des Barolos. Davon hatte er ein Fässchen gekauft, nach Gümligen transportiert und in der Garage seines Einfamilienhauses eigenhändig auf die Flasche gezogen und etikettiert. Die Kosten einer Flasche lagen bei 5 Franken, was ihn strahlen liess und die Studenten unter den Basketballern hellhörig machte. Bei der nächsten Abfüllung jedenfalls waren wir dabei und schleppten nach getaner Arbeit ein paar Kisten Barolo nach Hause, erfüllt vom Gefühl, eben das Geschäft des Lebens gemacht zu haben.

Christoph war ein anderer – verfressener – Freund aus dieser Zeit, Architekt und Fahrer einer königsblauen Lancia Flaminia, von der es hiess, sie sei im Besitz von Audrey Hepburn gewesen. Hin und wieder lud Christoph Müller Freunde und Bekannte zu einem Nachtessen ein,für das er ein paar Tage in der Küche stand und zum Mehrgänger aus seinem reich bestückten Keller die besten Bouteillen hervorholte. Voller Stolz brachte ich zu einer seiner Einladungen «meinen» Barolo mit. Neugierig, wie Christoph war, öffnete er die Flasche sogleich, auch weil ohnehin ein paar Piemontesen auf dem Programm standen. Er goss sich eine Kostprobe ins Riedelglas, schwenkte es, schnupperte hinein, nahm einen Schluck und verzog keine Miene. Er lächelte bloss mild und nachsichtig, griff zu einer der dekantierten Abfüllungen, goss wiederum ein wenig davon in ein Glas und reichte es mir. «Dio santo», schoss es mir durch den Kopf, was für ein Gedicht! Der Gastgeber präsentierte die Flasche stolz wie eine Jagdtrophäe. Was ich auf der Etikette las, liess mich seither nicht mehr los: Barolo Monprivato, Giuseppe Mascarello et figli, Monchiero. Das war meine private Barolo-Initiation.

Aurelio Settimo

Es gab sie also schon damals, Barolos, die das Herz schneller schlagen liessen. Einige der Produzenten wie Bartolo und Giuseppe Mascarello sind ihrem Stil treu geblieben, andere suchten in den 80er-Jahren mit Barriqueausbau, Rotortanks und Verschnitten mit anderen Sorten ihr Glück – man nannte sie Modernisten, in Abgrenzung zu den Traditionalisten. Zu letzteren zählt auch der Betrieb Aurelio Settimo in La Morra; mit einem solch imperial anmutenden Namen scheint auch gar nicht anderes möglich. Aurelios Vater Domenico starb 1962. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er sich im Dorfteil Annunziata in La Morra niedergelassen und führte einen landwirtschaftlichen Mischbetrieb. Mit dem Tod des Vaters schien für Aurelio die Zeit gekommen, sich auf Weinbau zu spezialisieren. Der Jahrgang 1962 ist der erste Jahrgang, der unter dem Familiennamen angeboten wurde. Noch bis in die 70er- Jahre verkauften Settimos einen Teil der Trauben an Kellereien. Mit dem Jahrgang 1984 kam es zu einer Neugestaltung des Auftritts, er hat bis heute Gültigkeit. Von den drei Töchtern Aurelio Settimos interessierte sich Tiziana für den Betrieb, sie ist seit 2000 für den Keller verantwortlich und keltert, wie sie es vom Vater gelernt hat: lange Maischegärung mit kräftiger Extraktion, Ausbau in glasbeschichteten Zementbehältern und 2500- bis 3500-Liter-Holzfässern, Flaschenreifung. Das alles ist ganz und gar unspektakulär. Was aus der Lage Annunziata stammt, wird separat abgefüllt, seit dem Jahrgang 2007 heisst der Barolo nicht mehr bloss Rocche sondern Rocche dell’Annunziata. In den besten Jahren (2004, 2009 und 2012) wird eine Riserva abgefüllt. Dafür werden die Trauben der ältesten Stöcke separat vinifiziert, und der Fassausbau wird von zwei auf drei Jahre ausgedehnt. Das ist der Stoff, wie er noch für manche Geschichte gut sein wird.

SHORT FACTS
AURELIO SETTIMO

ADRESSE Frazione Annun­ziata 30, 12064 La Morra
INTERNET www.aureliosettimo.com
GRÜNDUNG 1962
INHABERIN UND KELLERMEISTERIN Tiziana Settimo
REBFLÄCHE 6 Hektaren Nebbiolo, 1 Hektare Dolcetto
LAGE 3,5 Hektaren Rocche dell’Annunziata

ALTER DER REBEN 4 bis über 50 Jahre

STOCKDICHTE 4500 bis 
5000 Stöcke pro Hektare
JAHRESPRODUKTION 
40 000 Flaschen

MAXIMALE PRODUKTION 14 000 Flaschen Barolo,
 22 000 Flaschen Barolo Rocche delle Annunziata, 8000 Flaschen Dolcetto d’Alba und, je nach Qua­lität des Jahrgangs,
8000 Flaschen Nebbiolo
EXPORT 60 Prozent

WEINE AURELIO SETTIMO